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Jeevika, Indien


Eine Gewerkschaftsbewegung gegen Sklaverei

Die indische Gewerkschaftsbewegung JEEVIKA kämpft seit Mitte der 80er Jahre für eine Beendigung von Schuldknechtschaft und Fronarbeit. Beide Praktiken werden von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als heutige Formen von Sklaverei und Zwangsarbeit erachtet.

Zu JEEVIKAS Aktivitäten in den beiden in Südindien gelegenen Bundesstaaten Karnataka und Andhra Pradesh zählen

  • die Begleitung Betroffener – in aller Regel Dalits (Kastenlose) und Moolnivasis (Angehörige indigener Gemeinschaften) – in dem oft jahrelangen Freilassungs- und Rehabilitationsprozess;
  • die Organisierung ehemaliger Schuldknechte-/mägde, Fronarbeiter*innen und Tagelöhner*innen in Gewerkschaftsgruppen auf Dorf-, Distrikt- und Landesebene;
  • die Durchführung von gewerkschaftlichen Schulungsprogrammen für Arbeiter*innen, Mitglieder und Funktionär*innen sowie Trainings für Behörden und Gemeinderäte;
  • Unterricht für Kinderarbeiter*innen und Alphabetisierungsprogramme für Erwachsene;
  • partizipative (Dorf-)Erhebungen und Fallstudien;
  • Kampagnen, Demonstrationen, Sit-Ins, Straßentheater und Kulturprogramme;
  • Lobbying auf lokaler bis Bundesebene gegenüber Regierungsstellen;
  • Mitarbeit in der Bonded labour-Arbeitsgruppe der Nationalen Menschenrechtskommission.

(Ehemalige) Schuldknechte und –mädge organisieren sich

Die Stärke JEEVIKAS liegt darin, dass nahezu alle Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen selbst in den Dörfern leben, den Gemeinschaften der Dalits und indigenen Bevölkerung angehören und Schuldknechtschaft aus eigener Erfahrung kennen. Sie betreuen die 3.600 Gewerkschafts- und Selbsthilfe-Gruppen ehemaliger Schuldknechte/-mägde und Tagelöhner*innen.

Der Weg in die Freiheit geht nur gemeinsam

Nach der Erfahrung eines oft über Generationen erlebten Teufelskreises aus „Armut – Schuldknechtschaft – noch bitterer Armut …“, von täglicher Erniedrigung und nicht selten Gewalt sowie eines Zustands ständiger Erschöpfung bedeutet es eine große Herausforderung für die Betroffenen, die Kraft und den Mut aufzubringen, sich gegen ihre Arbeitsbedingungen zu wehren, und das Selbstbewusstsein und die Befähigung zu entwickeln, gegenüber Arbeitgebern, Verwaltungsbehörden und Polizei für die eigenen Rechte einzutreten. Wo es keine nachhaltige Unterstützung von außen gibt, ist es nahezu unmöglich, der Schuldknechtschaft wieder zu entkommen.

Tausende Dörfer schuldknechtschaftsfrei

Durch die Arbeit von JEEVIKA konnten bis dato mehr als 30.000 Menschen aus ihrer Schuldknechtschaft befreit werden. Während sich in Fällen, in denen der Befreiung – durch andere Organisationen oder Behörden – keine langfristige Organisierung und unterstützende Maßnahmen und Strukturen folgen, ein Großteil der Befreiten nach kurzer Zeit wieder in neuen Schuldknechtschaftsverhältnissen findet, liegt die Rückfallquote bei JEEVIKA bei null Prozent und Tausende Dörfer gelten als schuldknechtschaftsfrei. Für diese Erfolge wurden JEEVIKA mehrere (inter-)nationale Menschenrechtspreise verliehen.

Würde in Arbeit und Leben

Nach der Befreiung unterstützt JEEVIKA die Arbeiter*innen und ihre Familien dabei, Arbeit zu finden, die offiziellen Freilassungsurkunden zu erhalten und Rehabilitationsmaßnahmen zu beantragen und durchzusetzen. Eine "freie Arbeit" heißt, für den Lebensunterhalt der Familie sorgen zu können, sich Tag für Tag satt zu essen und ausreichend Kleidung zum Wechseln zu haben, in einem Notfall einen Mikrokredit aus der Selbsthilfegruppe zu erhalten, den Kindern den Schulbesuch und ein besseres Leben zu ermöglichen. Für die ehemaligen Schuldknechte und –mägde bedeuten diese Veränderungen einerseits eine materielle Existenzsicherung, aber auch die Gewinnung von Würde. Diese steckt auch in der Verbesserung der Infrastruktur in ihren (Dalit- oder Moolnivasi-)Siedlungen: Straßen, die sie mit dem Rest der Welt verbinden, eigene Brunnen, die ihnen lange Wege und erniedrigendes Anstehen hinter den sogenannten Höherkastigen ersparen, Elektrizität. Sie steckt in dem Zugang zu Informationen über ihre Rechte und über Verwaltungsstrukturen. Darin zu lernen, sich zusammenzutun, um die eigenen Anliegen selbst vertreten zu können. Familie und Privatsphäre (er)leben zu dürfen. Selbst über das eigene Leben bestimmen, am Gemeinschaftsleben teilhaben zu können. Zu erleben, dass ihnen innerhalb ihrer Familien, Gemeinschaften und in der Gesellschaft mehr Respekt und Anerkennung entgegen gebracht wird.

Unterstützung für die Arbeit JEEVIKAS

JEEVIKAS Arbeit geht weiter. Doch Bildungs- und Schulungsarbeit trägt sich selten von selbst und auch Gewerkschaftsarbeit benötigt in einem Kontext von Schuldknechtschaft ideelle und materielle Unterstützung von außen.

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Schuldknechtschaft und Fronarbeit

Schuldknechtschaft wird von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als eine heutige Form von Sklaverei betrachtet. Sie ist insbesondere in Südasien und in Südamerika weit verbreitet, aber auch in Europa und Nordamerika wieder im Vormarsch. In Indien ist sie seit 1976 verboten, aber dennoch weiterhin eine gängige Praxis in vielen Regionen und Sektoren. Allein in Karnataka leben - nach Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen - noch 400.000-500.000 Menschen in Schuldknechtschaft. In aller Regel ist es die Aufnahme eines – oftmals geringfügigen – Kredits bei einem privaten Geldverleiher (z. B. einem Minen- oder Ziegeleibetreiber oder einem Großbauern), um akute/n Armut/Hunger abzuwenden, Medikamente oder einen Arztbesuch zu bezahlen, der den Kreditnehmer dazu verpflichtet, die Schuld bei dem Kreditgeber abzuarbeiten. Aufgrund der Bezahlung weit unter dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns sowie infolge von Zins und Zinseszins kann der Arbeitgeber die Arbeiter*innen lange – nicht selten über Generationen – an sich binden.

Fronarbeit erfordert im indischen Kontext lediglich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (in der Kastenhierarchie niedrig angesiedelten) Kaste, die deren Mitglieder verpflichtet, unentgeltlich oder gegen minimale Bezahlung Tätigkeiten für Angehörige einer höher angesiedelten Kaste zu verrichten oder Produkte unter dem Marktwert zu verkaufen.

Jeder Schuldknecht, jede Schuldmagd hat eine eigene Geschichte

Hunger(löhne), extrem lange Arbeitszeiten (bis zu 22 Stunden/Tag, 7 Tage/Woche), Erschöpfung, katastrophale Unterbringung, hohe Gesundheits- und Unfallrisiken, niedrige Lebenserwartung, eine das ganze Leben überlagernde Fremdbestimmung, Angst, Erniedrigungen und Scham, häufig auch physische Gewalt und ein zerrüttetes Familienleben sind für die allermeisten Schuldknechtschaftsfamilien allgegenwärtige Lebensbegleiter. Die einen erzählen von kärglichen ein-zwei Mahlzeiten am Tag, die oft monatelang nur aus bitteren Blättern bestehen, ohne Salz, weil selbst dafür kein Geld vorhanden ist; die anderen von dem einzigen Kleidungsstück, das sie besitzen und tagein–tagaus während ihrer Arbeit und in der Nacht tragen müssen und für das sie keine Seife haben, um es zu reinigen. Viele berichten von den Schikanen und Bestrafungen der Arbeitgeber, wie das Angekettetwerden an einen Baum, den eingesperrten Säugling, das Verbot, mit anderen Arbeiter*innen zu sprechen. Von den viel zu kurzen Zündschnüren im Steinbruch, die die Arbeiter zwingen, nach dem Zünden um ihr Leben zu laufen. Von den Kuhställen der Arbeitgeber, in denen in der Landwirtschaft viele Männer und Kinder hausen müssen. Von dem Verbot, ihre Familien häufiger als einmal alle paar Monate zu besuchen, selbst bei Schwangerschaften, Geburten oder Todesfällen in der Familie.

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Weitere Informationen

Jeevika - in Indien als gemeinnützig registriert - ist die Partnerorganisation von mehr Wert! e. V. Wenn Sie

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